Es ist ein Teufelskreis: Je toller eine Destination, desto mehr pilgern die TouristInnen in Scharen an. Doch trotz Massentourismus sind die Metropolen dieser Welt noch voller unentdeckter Schätze. Dreißig davon hat Podcast-Host und Travel-Expertin Margherita Devalle im etwas anderen Reiseführer „Soul of Mailand“, erschienen beim Jonglez Verlag, zusammengestellt. Wir machen einen Ausflug in die verstecktesten Ecken der Stadt.


EINE GENIALE PIZZERIA, NOCH GANZ IM STIL DER 1970ER JAHRE
Die Pizzeria Oceania stammt aus den 1970ern und ist ein ganz spezieller Ort in Mailand: originale Vintage-Deko aus den Siebzigern (im hinteren Raum), experimentelle Musik im Hintergrund, Pizza aus der Bratpfanne … Dazu ein genialer, rothaariger Pizzabäcker und Wirt, der Ihnen begeistert von den Kunstinstallationen erzählt, die sich sein Vater bei der Gründung des Lokals ausgedacht hatte (und von denen noch ein paar Spuren übrig sind) … Spätestens dann haben Sie verstanden, dass hier, östlich des Stadtkerns, die Seele eines etwas anderen Mailands zum Ausdruck kommt. Probieren Sie unbedingt die Pommes mit Ingwer und Honig und beknien Sie den Hausherrn, bis er Ihnen das Datum des nächsten Gulasch-Abends verrät. Wenn Sie ein leicht alternatives, authentisches Ambiente mögen, sind Sie hier genau richtig.
Pizzeria Oceania Via Giovanni Briosi 10 20133 Milano


EIN HEISSER ABEND IN CHINATOWN
Das Mailänder Chinatown lässt sich kulinarisch mit seinem Pendant in New York vergleichen. Doch welche der vielen Adressen soll man hier besonders empfehlen? Beginnen Sie Ihren Besuch mit einem Glas Wein in den Cantine Isola, einem kleinen, versteckten Paradies. Weinflaschen mit Prädikat und deren Etiketten schmücken hier die Wände. Wenn das Wetter mitspielt, genießen Sie Ihr Glas im Freien, am besten im asiatischen Stil auf typischen roten Plastikhockern sitzend. Dienstags werden in der Cantine Isola mailändische Gedichte und Lieder vorgetragen. Gegenüber liegt die berühmte Ravioleria Sarpi, ein absolutes Muss: Die gefüllten Ravioli werden frisch an der Theke zubereitet, mit hochwertigen Zutaten und einem Quäntchen Liebe. Sie gelten als die besten chinesischen Ravioli der Stadt. Wer einen der dort angebotenen Kochkurse mitmacht, kann diese Ravioli sogar zu Hause zubereiten.
Ravioleria Sarpi Via Paolo Sarpi, 27 20154 Milano
Cantine Isola Via Paolo Sarpi, 30 20154 Milano

DIE BESTE TRATTORIA DER GANZEN STADT?
Die Trattoria Trippa Milano wurde von den langjährigen Freunden Pietro Caroli und Diego Rossi begründet und ist eines der beliebtesten Lokale in Mailand. Hier trifft Kreativität auf zwangloses Ambiente, ganz im Stil der Trattorien vergangener Zeiten. Chefkoch Diego bietet eine täglich wechselnde, saisonale und nachhaltige Karte, als Ergänzung zu den Speisen, die zu Symbolen dieser typischen Trattoria geworden sind: vom Vitello tonnato – neu interpretiert mit einer samtigen Sauce aus der Espumaflasche – über die verlockenden Tagliatelle burro e parmigiano bis zur Trippa fritta, den knusprig frittierten Kutteln. Eine Trattoria mit starker Identität, die in gastfreundlichem Ambiente und mit einer ausgezeichneten Weinkarte die italienische Küche zelebriert. Trippa ist ein Muss für alle, die auf der Suche nach Authentizität sind. Reservieren Sie unbedingt weit im Voraus.
Trippa Milano Via Giorgio Vasari, 1 20135 Milano


KUNST UND DESIGN DES 20. JAHRHUNDERTS ZUM GREIFEN NAH?
Robertaebasta ist wie ein Kunstmuseum, aus dem man sich jedes Exponat mit nach Hause nehmen könnte. Die Galerie enthält eine avantgardistische Sammlung der größten internationalen Künstler des 20. Jahrhunderts. 1967 gründete Roberta Tagliavini ihre erste Galerie in Mailand, zu einer Zeit, als die Stadt nichts von der heutigen eleganten Metropole hatte. „Mailand war sehr schmutzig“, erinnert sich Roberta. Doch sie hielt sich nicht mit Äußerlichkeiten auf, sondern trug sogar dazu bei, aus Brera einen der gefragtesten Stadtteile zu machen. Ihre ersten Kunden waren die großen Modeschöpfer, die Visionäre, die den Trends vorzugreifen wussten. Armani – auch heute noch ein treuer Kunde –, Cavalli, Versace. „Versace war ganz offiziell die erste Person, die den Ladenraum hier in Brera betreten und etwas gekauft hat“, erzählt Roberta. Seitdem haben ihr besonderer Stil und ihr Know-how sie zur internationalen Expertin für Kunst aus dem 20. Jahrhundert werden lassen, mit Schwerpunkt auf Jugendstil und Art déco.
Robertaebasta Via Fiori Chiari, 2 20121 Milano

EIN KIOSK MIT SCHALLPLATTEN, UMGEBEN VON TOURISTENFALLEN
Auf dem Platz vor dem Duomo, zwischen den vielen Touristen und den mittelmäßigen, ihnen gewidmeten Geschäften, hat Gigi erstaunlicherweise überlebt. 1977 verwandelte er den kleinen Kiosk, den er von seinen Onkeln geerbt hatte, in ein echtes Heiligtum für Plattenfans. Nach der Expo 2015 nahm er, „um dranzubleiben“, zwar ein paar Souvenirs ins Sortiment auf, doch der Kern des Kiosks blieb unverändert: Vintage-Schallplatten aus den verschiedensten Epochen und Musikrichtungen. Alles ist in seinem Gedächtnis katalogisiert, er braucht kein schriftliches Archiv. Jede Platte ist ein Einzelstück. Zu den verborgenen Schätzen des Kiosks gehört eine noch originalverpackte LP von Rino Gaetano, Gigi erzählt auch gern vom Verkauf eines äußerst seltenen Albums von Franco Battiato. Unter seinen Kunden sind viele VIPs. Vielleicht sehen Sie ja ein berühmtes Gesicht, falls Sie länger als nur für einen Kaffee bleiben…
Discovery by Gigi Passaggio Santa Margherita Piazza dei Mercanti 20123 Milano


EIN TAG IM NAVIGLI VIERTEL – LEBEN WIE DIE MAILÄNDER
Beginnen Sie den Tag mit einem Streifzug durch die Vintage-Boutiquen, die über das Viertel verstreut sind. Bei Ambroeus Milano finden Sie zeitlose Stücke (einen weiteren gut sortierten Standort gibt es im Stadtviertel Isola). PWC Milano mischt Vergangenes mit Kollektionen von jungen, aufstrebenden Modedesignern. Und Groupies liegt zwar ein bisschen abseits, bietet den Jägern und Sammlern aber dafür Vintage-Schätze aus aller Welt. Zur Mittagszeit finden Sie mit Brutto Anatroccolo ein traditionelles Restaurant ohne Schnickschnack, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Hier kann man mailändische Hausmannskost zum kleinen Preis genießen. Lassen Sie sich weder die Mega-Portion gegrillten Scamorza noch den Arrostino (Rosmarinschinken) entgehen, wenn sie auf der – handgeschriebenen – Tageskarte stehen! Ein selten authentischer Ort. Die Bar Frizzi e Lazzi gibt es seit 1982. Ihr großer, von der Straße nicht einsehbarer Innenhof liegt inmitten von alten Mailänder Wohnhäusern mit den typischen Balustraden. Geboten sind: ein paar Tramezzini (das „Cosacco“ ist bei den Stammgästen sehr beliebt), Bier vom Fass und große Bildschirme für die Fußballübertragungen. Zum Abendessen ist die Osteria Conchetta eine Institution hier im Viertel. Die Risotti sind ausgezeichnet, insbesondere die Version „Riserva mantecato“, die vor dem Gast zubereitet wird. Danach ist die Orecchia d’elefante des Hauses schon fast Tradition. Die Portionen sind groß – es bietet sich an, zu teilen. Nach dem Abendessen begibt man sich ins Cox18, einen sozialen Raum, der seit 1976 besetzt und selbstverwaltet ist. Definitionen finden hier keine Anwendung, und so ist es auch gewollt. Kreativ, künstlerisch, revolutionär … ein Ort zum Verlieben, an dem immer irgendein ausgefallenes Kultur-Event geboten wird, dazu Bier zu einem der günstigsten Preise in Mailand. An der Außenwand ist eines der seltenen Mailänder Werke von Blu zu sehen, dem berühmten italienischen Street-Art-Künstler, der (wie sein Kollege Banksy) seine Identität nie preisgegeben hat.
Vintage-Boutiquen: @ambroeus.milano @pwcmilano @groupiesvintage
Brutto Anatroccolo Via Evangelista Torricelli 3 20136 Milano
Frizzi e Lazzi Via Evangelista Torricelli 5 20136 Milano
Osteria Conchetta Via Conchetta 8 20136 Milano
Cox18 Via Conchetta 18 20136 Milano

STREETFOOD ALLA MILANESE
Natürlich gibt es in Mailand gutes Essen. Aber nicht nur in den Restaurants! Hier sind drei Adressen für hervorragendes Streetfood, für das sich der Umweg lohnt. Zum echten Mailänder Wochenende gehört es, samstags vor dem 1967 gegründeten grün-weiß-roten Laden des Brathuhnkönigs Giannasi in der Warteschlange zu stehen. Seit Generationen holen die Mailänder sich hier ein am Spieß gebratenes Hähnchen und verzehren es zu Hause oder beim Picknick in einem der Mailänder Parks. Ebenfalls zu empfehlen: die Giannuggets. Inmitten der nach exotischen Gewürzen aus aller Welt duftenden Stände an der Darsena (Binnenhafen) liegt eine wunderbare, wenn auch ein bisschen ungewöhnliche Metzgerei. In der Macelleria Popolare gibt es nämlich keine Metzger, sondern nur Köche: das Pastrami-Sandwich, das gegrillte Knochenmark und die Polpette della nonna (Fleischklopse) gehören zu den unbestrittenen Bestsellern, die stehend am Tresen oder bei schönem Wetter an der Darsena sitzend verspeist werden. Natürlich gibt es hier nur Bio-Fleisch aus Weidehaltung, das mit äußerster Sorgfalt vor den Augen der Kunden zubereitet wird. Vorsicht: Das köstliche Tiramisu gibt es nur auf Bestellung! Der Chiosco (Kiosk) Maradona in der Via Tabacchi ist etwas ganz Besonderes. Hier endet für viele das Mailänder Nachtleben: Man isst noch einen Happen, bevor man endlich schlafen geht. Der Kiosk schließt erst, wenn alle ins Bett gefallen sind. Auf dem Speisezettel stehen Pferdefleisch (aber nicht nur!), Panini und Pommes in riesigen Portionen. Probieren Sie unbedingt Il Magnifico, ein Panino mit Pferderagout, Speck, Zwiebeln, Scamorza-Käse und einer Sauce aus geheim gehaltenen Zutaten. Wenn Sie eine lange Nacht in Mailand verbringen, landen Sie am Ende sicher beim Chiosco Maradona. Daran führt kein Weg vorbei: Tradition will respektiert werden!
Giannasi 1967 Piazza B. Buozzi 2 20135 Milano
Macelleria Popolare (Darsena) Piazza Ventiquattro Maggio 4 20123 Milano
Chiosco Maradona Via Odoardo Tabacchi, 33 20136 Milano


MEHR ALS 35’000 BÜCHER AN EINEM MAGISCHEN ORT
Bücher liest man nicht nur – man lebt sie, hört sie, berührt sie. Sollten Sie das vergessen haben, dann erinnert Sie die Kasa dei Libri wieder daran. Sie ist weder Bibliothek noch Buchhandlung, sondern eine wahre Zufluchtsstätte für kreative Köpfe. Der einladende, ausgefallene Ort zieht sich über den fünften und sechsten Stock eines modernen Gebäudes unweit des Bosco Verticale und resultiert aus der Leidenschaft des Schriftstellers und Sammlers Andrea Kerbaker, der seit seiner Kindheit eine Sammlung aufgebaut hat, die heute mehr als 35’000 Bände umfasst. Die einstigen Privatwohnungen wurden in ein magisches, gastfreundliches, für alle zugängliches Literaturparadies umgewandelt. Im fünften Stock findet man das Herz der Sammlung: seltene Bücher, manche davon über 500 Jahre alt, wie etwa eine kostbare Aldine (eines der ersten Taschenbücher) aus dem Jahr 1500, sowie sonderbare Bücher, Bände mit Widmungen und die geheimnisvollen „Phantombücher“, die aus dem Verkehr gezogen wurden, weil sie Missfallen erregt hatten.
Kasa dei Libri Largo Aldo de Benedetti, 4 20124 Milano

SOUL OF MAILAND
Mit fremden Leuten in einer fremden Altbauwohnung zu Abend essen, auf einer alten Rennradbahn Vollgas geben oder sich mit authentischem Streetfood den Bauch vollschlagen: Mailand bietet um einiges mehr als die üblichen Touristenfallen. Margherita Devalle hat die 30 besten geheimen Hotspots ausfindig gemacht und daraus einen Reiseführer der etwas anderen Art kreiert. Das Rezept für einen einzigartigen Mailand-Aufenthalt? Vergesst die gehypten TikTok-Videos, vermeidet die Massen und nehmt ein gutes altes Buch in die Hände. Margherita Devalle, „Soul of Mailand“, Jonglez Verlag, ca. 15. -,
jonglezpublishing.com

MARGHERITA DEVALLE
Vor ihr kann sich kein gut gehütetes Geheimnis verstecken: Gegen Moderatorin, Podcast-Host und Reiseprofi Margherita Devalle haben TikTok und TripAdvisor keine Chance. Die besten Hotspots ihrer Wahlheimat Milano hat sie für „Soul of Mailand“ zusammengestellt.
@margherita_devalle

OTTAVIO FANTIN
Oft reicht ein Handyfoto, um die Reiselust anzufeuern. Oder in der heutigen Welt ein TikTok-Video. Fotograf Ottavio Fantin mag den klassischen Weg und hat mit seiner Kamera bereits über 50 Länder bereist. Am liebsten hält er pulsierende Metropolen und leere Ecken analog fest. Klar war er der Richtige, um für „Soul of Mailand“ die besten Ecken seiner Heimat visuell festzuhalten.
@ottaviofantin
Wir haben mit Autorin Margherita Devalle gesprochen und versucht, noch mehr Insider-Tipps aus ihr herauszukitzeln. Hier kannst du das ganze Interview mit Margherita Devalle lesen.
Neugierig geworden auf die restlichen Hotspots? Hier kannst du dir das Buch «Soul of Mailand» besorgen.
Fotos: © Ottavio Fantin