„Es ist nicht einfacher, einen Champagner zu machen als eine Megayacht“, sagt Philippe Starck im Interview. Wahrscheinlich ist er weltweit der einzige Mensch, der beides getan hat. Für Louis Roederer war der legendäre Designer an der Kreation eines Brut Natures beteiligt. Beim gemeinsamen Interview mit Louis Roederer CEO Fréderéic Rouzaud in Paris erzählt uns Monsieur Strack, wie er für diese Kollaboration eine eigene Sprache erfinden musste. Und wie man sich an ihn erinnern wird – auch wenn er das gar nicht will.
Eine seiner bekanntesten Kreationen, die Zitronenpresse Juicy Salif, skizzierte er auf dem Tischset einer Pizzeria. Doppelt lecker. Doch meistens sind es Notizbücher, die Philippe Starck mit seinen Ideen füllt. Täte man die Hefte alle aufeinander stapeln, würden sie einen Schatten auf den Eiffelturm werfen. Das französische Multitalent hat in den vergangenen 50 Jahren fast alles neu erfunden, wahrscheinlich auch das Rad. Von der pistolenförmigen Tischlampe bis zu ökologischen Stadtkonzepten: Starck denkt groß, auch im Kleinen. Und erschafft Neues, indem er weglässt. „Es ist wie die Quadratwurzel, man teilt und teilt“, erklärt uns Starck im Gespräch seine Philosophie. Sie gilt auch für eine Zusammenarbeit, die für den Pariser eine spezielle Herausforderung war. Ein Stuhl lässt sich mit dem Bleistift auf Papier zeichnen. Ein Haus kann mit Karton als Modell gefaltet werden. Doch wie entwirft der Designer… Champagner? Ganz einfach: Indem er weglässt. Ausgerechnet beim Getränk, das für maximale Opulenz steht. Die Kollaboration mit Louis Roederer begann vor knapp 20 Jahren, als CEO Frédéric Rouzaud beim kreativen Kopf um den Entwurf einer Flasche mit Etikett bat. Starck lehnte ab. Stattdessen wollte er in den kompletten Herstellungsprozess mit eingebunden werden. Aufgrund Starcks Ideen für den Geschmack und die Perlung wählte Kellermeister Jean-Baptiste Lécaillon die Zusammensetzung der Reben und welche Weinberg-Parzellen die entsprechenden Bedingungen am besten erfüllten. Die Vision: Eine Dosage Zéro – also ein besonders trockener Champagner, dem keine Süße beigefügt wird. Zudem nur in Jahren hergestellt, die dazu optimale Wetterbedingungen erfüllen. Nur so, meint Starck, zeige sich der Champagner in seiner wahrhaftigen Form. Fünfmal war das bislang der Fall. Der Brut Nature 2018 ist der jüngste Jahrgang und wurde jetzt lanciert. Zwischen dem Korkenknallen bei der Premiere in Paris nahmen sich Philippe Starck und Frédéric Rouzaud Zeit für ein Gespräch.
FACES: Vor 20 Jahren hast du deine Zusammenarbeit mit Louis Roederer begonnen. Haben sich währenddessen dein Ansatz und deine Ziele für dieses Projekt verändert?
Philippe Starck: Nein. Der Ansatz ist exakt derselbe geblieben. Aber wir verfeinern ihn, wir werden radikaler. Die Grundidee hinter unserer Arbeit ist es, auf den Kern der Dinge zu gehen, zum Wesentlichen vorzudringen – zum Knochen, zum Herzen, zum Rückgrat. Besonders in einer Gesellschaft, in der heutzutage viele Lügen verbreitet werden, finde ich es gut, ehrlich zu sein. Wenn man einen Champagner ohne Dosage herstellt, lügt man nicht, weil es ein echter Champagner ist. Man fügt nichts hinzu, um ihn süß zu machen. Man lügt nicht, wenn man einen Millésime macht. Weil man ihn nur in Jahren produziert, in denen die Bedingungen – warm und trocken genug – es zulassen. Deswegen ist es immer die Suche nach Reinheit, der Reinheit von allem. Wir wollen der Welt einen Champagner geben, der genau das ist: Champagner, nichts vermischt. Das ist meine Aufgabe, das versuche ich zu tun. Ich hatte und habe großes Glück, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten: Herrn Rouzaud, dem Eigentümer, und Jean-Baptiste Lécaillon, dem Kellermeister – er ist ein absolutes Genie. Ich habe großes Glück, denn als wir uns trafen, hatte ich eine sehr radikale Vision. Sie hätten sagen können: „Hey, trink etwas mit uns, aber geh dann wieder Zahnbürsten entwerfen.“ Aber sie haben es wirklich verstanden. Sie haben sich sofort darauf eingelassen, als hätten sie es schon immer gewollt, aber die Tradition hatte sie bisher davon abgehalten. Ich war der Katalysator, der Funke, der einige Spielregeln verändert hat. Und ich setze meine Rolle als eine Art „Hüter des Tempels“ fort – nicht, dass es wirklich nötig wäre. Aber um sicherzustellen, dass wir immer beim Kern der Dinge bleiben. Daran hat sich nichts geändert.
F: Frédéric, warum passt die Kollaboration mit Philippe Starck so gut zusammen? Hattet ihr eine ähnliche Sprache oder Vision?
Frédéric Rouzaud: Wir teilen dieselbe Leidenschaft, dieselbe ästhetische Vision, dieselbe Präzision. Nämlich einen ganz bestimmten Wein in dieser Kategorie von Brut Nature herzustellen, die damals noch nicht so bekannt war. Damals gab es noch keine Jahrgangs-Brut Natures. Es gab nur Multi-Jahrgangs-Weine von anderen Häusern, die jedoch nicht so präzise hergestellt wurden, wie wir es uns vorgenommen hatten. Wir wählten ein bestimmtes Terroir – Cumières – auf bestimmten Parzellen mit sehr kalten Lehmböden. Wir erlaubten uns, frei zu kreieren, das heißt, wir konnten Pinot Noir und Chardonnay zusammen ernten, alle Rebsorten im selben Weinberg anpflanzen und nur in Jahrgängen produzieren, die wir für geeignet hielten. Das sind in der Regel warme, trockene Jahre – wie 2006, 2009, 2012 –, in denen dieses Terroir wirklich etwas Besonderes zum Ausdruck bringen kann. Seit den Anfängen hat sich eigentlich nichts geändert; es war immer dasselbe Terroir. Vielleicht haben wir einige Praktiken angepasst, wie zum Beispiel, dass wir alles am selben Tag ernten. Die Jahrgänge unterscheiden sich natürlich – 2006, 2009, 2018 –, aber sie alle haben die gemeinsame Eigenschaft, dass es eher kontinentale als ozeanische Jahre mit wenig Regen waren. Jahre wie 2020 oder 2022 werden uns wahrscheinlich einen weiteren großartigen Brut Nature bescheren. Das ist der rote Faden.
F: Welche neuen Perspektiven hat Philippe in die Welt des Champagners gebracht? Hat er euch mit seinen Ansichten überrascht, oder dazu herausgefordert, die eigene Arbeit mit anderen Augen zu sehen?
FR: Es war nicht wirklich eine Herausforderung – wir hatten die Idee, einen Brut Nature zu kreieren, und ihm gefiel das sehr gut. Alles ergab sich ganz natürlich. Wenn er zu Besuch kommt, unterhalten wir uns, essen zu Mittag oder zu Abend, und er teilt seine Vision mit uns. Natürlich nicht in technischen Begriffen, sondern in seiner poetischen Vorstellung von einem „Traumchampagner“. Etwas, das rein und authentisch ist, ohne jegliche Verfälschung – „weniger ist mehr“. Das hat uns nicht nur dazu ermutigt, einen Brut Nature zu kreieren, sondern ihn auch sehr scharf, präzise, intensiv und köstlich zu machen – was für diesen Stil ziemlich schwierig ist. Brut Nature kann manchmal ziemlich säurehaltig sein und sich im Mund nicht sehr „angenehm“ anfühlen. Er ist wie ein Ferrari – anspruchsvoll, aber aufregend. Philippe hat uns dazu gebracht, weiter zu gehen und bestimmte Grenzen zu überschreiten, die wir sonst vielleicht nicht gewagt hätten.

„Es ist nicht einfacher, einen Champagner zu machen als eine Megayacht.“
F: Philippe, wie übersetzt du deine Arbeit, konkrete Objekte zu schaffen, in etwas Flüchtiges wie Champagner?
PS: Am Anfang ist alles flüchtig. Alles ist immer in der Luft, in deinem Kopf, irgendwo in deinem Unterbewusstsein. Traurigerweise wird es dann zu einem Produkt, weil wir in einer materialistischen Gesellschaft leben und jeder Traum sich kristallisieren muss. Aber es ist genau dasselbe. Vom Champagner zu träumen ist dasselbe, wie von medizinischer Ausrüstung zu träumen oder von dem, was wir auf der Internationalen Raumstation tun. Es ist genau dieselbe Arbeit, denn es geht immer um dieselbe Frage: Wie kann ich meiner Gemeinschaft helfen, ein besseres Leben, ein besseres Denken, einen besseren Traum zu haben? Das ist alles. Wenn man dann, wie ich, ein bisschen „verrückt“ ist, aber mit einer klaren Logik, wendet man diese Idee an, das Richtige auf die richtige Weise für die richtigen Menschen zu tun. Und das ist für alles sehr einfach. Es ist nicht einfacher, einen Champagner zu machen als eine Megayacht. Es ist dieselbe Arbeit, und sie erfordert genau denselben Respekt und dieselbe Energie, um die Sache voranzubringen. Denn wenn man nicht die Energie und den Respekt hat, zerfällt alles wieder ins Nichts.
F: Hat die Zusammenarbeit mit Louis Roederer einen Einfluss darauf gehabt, wie du kreative Projekte im Allgemeinen angehst?
PS: Ja, das war sehr interessant, denn ich wusste absolut nichts über die Champagnerherstellung. Ich trinke ihn, aber ich hatte keine Ahnung, wie man ihn besser machen könnte. Die meisten Leute trinken ihn und sagen: „Oh, er ist gut.“ Aber ich, nun ja, ich musste einem Meister seines Fachs, dem Kellermeister, meine Vorstellungen erklären, was nicht einfach war. Das Schöne war, dass ich im Französischen jemand bin, der sehr präzise die richtigen Worte wählt. Es gibt sogar einen Filmausschnitt darüber, wie ich sage: „Ich möchte es wie Stahl.“ Und der Kellermeister steht mit einem Zettel vor mir und notiert: „Stahl, das bedeutet…“ Ich wollte es „hyper scharf“, was wiederum „saurer“ bedeutet. Jedes Wort, das ich sagte, wurde chemisch übersetzt und zugeordnet. Wir haben eine sehr präzise, produktive, quasi „diagonale“ Sprache erfunden, die für alle klar war. Das Faszinierende war, als wir vor 20 Jahren den ersten Tropfen probierten, waren alle erstaunt. Nicht, weil er gut oder schlecht war. Sondern weil er genau das war, was ich erklärt und der Kellermeister verstanden hatte. Es war schockierend, auf eine gute Art. Wir haben etwas unglaublich Perfektes entdeckt. Es ist immer die alte Lehre: „Weniger ist mehr.“ Je mehr man wegnimmt, desto besser wird es. Es ist wie die Quadratwurzel, man teilt und teilt. Das tun wir. Wir nehmen weg, teilen, teilen, teilen. Und was wir heute haben, besonders bei diesem Champagner, ist das absolute Minimum von allem.
F: Was ist die Hauptemotion, die du in deinen Designs – oder in diesem Fall Champagner – in Menschen hervorrufen möchtest?
PS: Zunächst einmal ist Champagner etwas Besonderes. Er ist kein Wein wie jeder andere. Er ist von Natur aus für besondere Momente gedacht. Besondere Momente, die hauptsächlich mit tiefem Vergnügen, mit Freude, mit einem Geburtstag, einer Hochzeit oder Liebe verbunden sind. Deshalb liebe ich Champagner. Deshalb war ich daran interessiert, und deshalb arbeite ich weiterhin an dieser Idee. Aber die Hauptemotion ist die Jubelstimmung.
F: Jubelstimmung?
PS: Ja, Jubelstimmung. Wenn man etwas sieht, anfasst, trinkt und sagt: „Wow, das haben sie geschafft!“ Dahinter steckt menschliche Intelligenz, menschliche Ehrlichkeit. Ja, Ehrlichkeit. Das Schlüsselwort ist Ehrlichkeit. Die absolute Ehrlichkeit. Und Ehrlichkeit ist eine Reinvestition. Es ist die beste Investition, denn es gibt immer weniger Ehrlichkeit.
F: Das stimmt.
PS: Deshalb wird man, wenn man ehrlich ist, letztendlich selten.
F: Frédéric, Louis Roederer ist seit langem Vorreiter im Bereich des nachhaltigen Weinbaus. Wie haben sich nachhaltige Praktiken entwickelt, und ist es heute einfacher oder schwieriger, sie umzusetzen?
FR: Etwa die Hälfte unseres Weinguts – 130 von 250 Hektar – ist mittlerweile zu 100% biologisch und zertifiziert. Dabei handelt es sich um unsere Grand-Cru- und Premier- Cru-Weinberge, aus denen wir unseren Brut Nature, alle unsere Jahrgänge, den Blanc de Blancs, den Brut Rosé und natürlich den Cristal und den Cristal Rosé herstellen. Wir haben damit vor mehr als 25 oder 30 Jahren begonnen und sind zu dem zurückgekehrt, was meine Großeltern und Urgroßeltern vor der Ära der Chemikalien in den 1970er- und 1980er-Jahren getan haben. Wir sind zu diesem Erbe zurückgekehrt, das nicht nur nachhaltiger, sondern auch authentischer ist. So kann sich das Terroir – die Kreide der Champagne – reiner entfalten. Das ist nicht immer einfach: Manche Jahre sind schwierig, wie zum Beispiel letztes Jahr, als es viel geregnet hat und Mehltau auftrat. Das erfordert große Aufmerksamkeit und viel Arbeit von unseren Teams. Aber wir glauben an Authentizität und daran, die Essenz unseres Terroirs einzufangen, und akzeptieren, dass manche Jahre schwieriger sind als andere. Das ist die Magie unserer Welt.
„Alles, was ich tue – oder fast alles –, hat immer die Absicht, etwas zu verändern, etwas zu bewegen, einen neuen Blickwinkel zu eröffnen.“
F: Mit welchen weiteren Herausforderungen – wie beispielsweise veränderten VerbraucherInnengewohnheiten – sieht sich die Branche neben dem Klimawandel heute konfrontiert?
FR: Was Champagner angeht, ist es entscheidend, seine Einzigartigkeit zu pflegen – sein einzigartiges Terroir, sein Savoir-faire. Champagner ist universell; es gibt ihn seit Jahrhunderten, und sein magischer Geschmack macht ihn zu etwas Besonderem. Solange wir die Qualität, Authentizität und Reinheit des Ausdrucks bewahren, werden wir auch die nächste Generation ansprechen. Eine Herausforderung würde sich nur ergeben, wenn wir unsere Standards senken würden. Champagner muss einzigartig bleiben – er ist der höchste Ausdruck von Sekt, und das muss auch so bleiben.
F: Eine letzte Frage an Philippe: Du hast so viele Objekte erschaffen und Kollaborationen entwickelt. Welche davon sollen die Menschen in 100 Jahren noch ganz besonders in Erinnerung haben?
PS: Ich bin nicht daran interessiert, dass man sich an mich erinnert.
F: Aber man wird sich definitiv an dich erinnern.
PS: Ja, aber wer erinnert sich jetzt noch an meinen Freund Steve Jobs? Er war drei Wochen nach seinem Tod verschwunden. Wir müssen sehr bescheiden sein. Das Einzige, was die Leute vielleicht sagen können, ist, dass ich sehr kreativ war – aber das ist eine Art Geisteskrankheit. Nein, eher, dass ich ehrlich war. Man könnte sagen, ich habe mit Ehrlichkeit für uns gekämpft, denn ich habe mein ganzes Leben lang gekämpft. Zum Glück nicht im Krieg, aber bei allem, was ich erschaffen habe, steckte eine strategische Absicht dahinter. Ich habe nie ein Objekt entworfen, nur um ein schönes Objekt zu schaffen. Alles, was ich tue – oder fast alles –, hat immer die Absicht, etwas zu verändern, etwas zu bewegen, einen neuen Blickwinkel zu eröffnen. Und jetzt bin ich sehr alt, und ich treffe immer mehr Menschen, die sagen: „Wissen Sie, vor 40 Jahren haben Sie über Ökologie gesprochen, und wir haben Sie belächelt, aber Sie hatten Recht.“ Oder „Vor 40 Jahren sprachen Sie über Computer im Körper, und wir nannten Sie Frankenstein, aber jetzt sehen alle, dass Sie Recht hatten.“ Ich bin stolz darauf, dass ich genug gearbeitet und oft das Wesentliche erkannt habe – das, was wichtig war, was geschehen musste oder nicht geschehen durfte. Ja, es ist das Leben eines Kämpfers, eines zivilen Kämpfers.

PHILIPPE STARCK
Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach die berühmteste Zitronenpresse aller Zeiten daraus. Doch die Juicy Salif ist nur eines von Tausenden ikonischen Designs, die Philippe Starck in seiner über 50-jährigen Karriere entwickelt hat. Die Vision des Franzosen findet sich von der Zahnbürste bis zu den Privaträumen vom Élysée-Palast. Verspielte Ideen in reduzierter Form für ein größtmögliches Publikum prägen die Philosophie des 76 Jährigen. Daraus entstehen Skulpturen mit Popart-Bezug für den Alltagsgebrauch. Und manchmal auch etwas ganz anderes: Der Brut Natur 2018 ist die fünfte Zusammenarbeit von Starck mit Champagner-Produzent Louis Roederer. Und wenn das Leben dir Champagner gibt, mach einen unvergesslichen Moment daraus.
Abtauchen in Philippe Starcks Universum? Hier lang.
Fotos: © Louis Roederer
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