Selbstsuche, eine wahnwitzige Verfolgungsjagd und Babys, die einfach nicht älter werden – oh my! In seiner neuen surrealen Tragikomödie „Kill the Jockey“ kombiniert der argentinische Regisseur Luis Ortega all diese Elemente zu einem Werk, das gleichermaßen verwirrt und berührt.

Luis Ortega ist längst kein Unbekannter mehr: Er inszenierte mehrere Folgen von „Narcos: Mexiko“ und brachte zuletzt 2018 mit „Der schwarze Engel“ („El Ángel“) ein Drama heraus, für das er sich von der Lebensgeschichte des argentinischen Serienmörders Carlos Robledo Puch inspirieren ließ. Nun legt der argentinische Regisseur mit „Kill the Jockey“ einen Film vor, der zwischen Neo-Noir-Eskapade, Selbstfindungstrip und absurdem Theater changiert.

Wer hoch fliegt, fällt tief
Der Film beginnt mit Remo (Nahuel Pérez Biscayart), einst gefeierter Jockey, der in einer Bar seinen Rausch ausschläft. Währenddessen warten skurrile Pferderenn-Mafia-Mitglieder, denen er Geld schuldet, mit einer Engelsgeduld auf ihn.
Remos schon zu Beginn unmissverständlich angedeutete Suchterkrankung wird ihm schließlich zum Verhängnis: Während seines schicksalhaften Comeback-Rennens steigt er komplett zugedröhnt auf Mishima – ein millionenschweres, aus Japan eingeflogenes Pferd – und reitet kurz vor dem Ziel mit voller Geschwindigkeit gegen die Absperrung. Kein Wunder, nach dem Spaßgetränk, bestehend aus Ketamin und Whisky, das der Protagonist sich kurz vorher genehmigt hat.
Die Folgen des spektakulären Unfalls sollen laut der Ärztin „nicht mit dem Leben kompatibel“ sein. Doch statt zu sterben, verliert die Hauptfigur mit den hypnotisierenden, traurigen Augen das Gedächtnis – und im Verlauf auch ihre schwangere Freundin Abril, grandios gespielt von der spanischen Schauspielerin Úrsula Corberó, die als Tokio in der Netflix-Serie „Haus des Geldes“ bekannt wurde.
Orientierungslos irrt Remo durch die Straßen von Buenos Aires, nur ausgestattet mit einem glamourösen braunen Fellmantel, einer Tasche gefüllt mit grellem Make-up – Souvenirs aus seiner Zeit auf der Notfallstation, die er von seiner älteren Mitpatientin hat mitgehen lassen – und einem turbanartigen Kopfverband.
„Was muss ich tun, damit du mich liebst?“ fragt Remo seine Freundin Abril zu Beginn des Films. „Sterben und wiedergeboren werden“, antwortet sie. Das nennen wir mal Foreshadowing. Denn es dauert nicht lange, bis der ehemalige Star-Jockey eine neue Identität entwickelt. Und aus Remo Dolores wird.

Selbstgeburt und eine Odyssee sondergleichen
Diese Identitätssuche wird von einer halsbrecherischen, wenn auch etwas kuriosen Verfolgungsjagd begleitet. Denn der skrupellose Gangsterboss Sirena (Daniel Gimenez Cacho) will sein Geld um jeden Preis zurück – und schickt Dolores Figuren an den Hals, die exzentrischer nicht sein könnten. Dazwischen gibt es Babys, die seit Jahren nicht wachsen (und immer etwas anders aussehen), Waagen in Apotheken, die kein Gewicht anzeigen und Spiegel ohne Ebenbild. Ist der Unfall vielleicht doch tödlich verlaufen? Ortega überlässt die Antwort dem Publikum
Die queeren Motive werden selbstverständlich und unaufgeregt erzählt (so wie es sein müsste): Während Abril eine Beziehung mit Jockey Ana (Mariana Di Girólamo) eingeht, findet Dolores endlich zu sich: „Ich habe mich selbst geboren“, sagt sie.
Neben herzerwärmenden Szenen und solchen, die einen mit mehr Fragen als Antworten zurücklassen, gibt es auch lustige Momente, denn Luis Ortega liebt das Absurde und treibt es auf die Spitze. Manchmal fragt man sich, was ihn geritten hat – im besten Sinne.
Zwischen episodenhaften Handlungssträngen, Tanzeinlagen, Verweisen auf das spanische und argentinische Kino der Sechziger- und Siebzigerjahre und einem zärtlichen Umgang mit Geschlechterrollen stiehlt Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart einem das Herz. Seine Performance als Dolores/Remo ist fragil, zerbrechlich und präzise, sein stets ungläubiger Blick fesselnd. Dass sich Schauspieler und Regisseur seit über zwanzig Jahren kennen, spürt man in jeder Szene
Visuell erinnert „Kill the Jockey“ mit seiner satten Farbpalette und den verschrobenen Charakteren an einen Wes-Anderson-Streifen, jedoch in dunklen, statt pastelligen Tönen und ohne die für Anderson typische direkte Publikumsansprache
Stylisch, unberechenbar und zärtlich – ein Film, der einen immer wieder aus dem Sattel wirft. Solltest du ihn dir zu Gemüte führen? Auf jeden Stall, wie die Hauptfigur sagen würde
Seit dem 18.09 im Kino zu sehen.

Hier findest du den Trailer zu „Kill the Jockey“.
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Fotos: © Anne Meinke Filmvererleih