Das FACES-Redaktionsteam hat nicht nur Runways weltweit im Blick, sondern auch immer ein großartiges Buch in der Tasche. Mit dieser Kolumne wollen wir dir unsere heißesten Lese-Highlights nahebringen. Von zeitlosen Klassikern, inspirierenden Essay-Sammlungen, spannenden Sachbüchern und angesagten Neuerscheinungen: Hier ist für jeden Geschmack etwas dabei. Nach Sempre Susan von Sigrid Nunez widmen wir uns diesmal einem Buch, das ebenso unbequem wie notwendig ist: „Small Boat“ von Vincent Delecroix.
Laura Marta, Redaktionspraktikantin, verrät, was sie zuletzt gelesen hat.
Ärmelkanal, 24. November 2021: 30 Personen versuchen, auf einem Schlauchboot von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Als es kentert, rufen sie die französischen Behörden an und bitten über ein Dutzend Mal um Hilfe – auf Französisch, Englisch, Kurdisch. Die sich wiederholende Antwort: Sie befänden sich bereits in britischen Gewässern. Auch die dortigen Beamten sind informiert, doch niemand kommt. Am Ende dieser Tragödie sind mindestens 27 Menschen tot. Wer trägt die Schuld?
Zwischen Gleichgültigkeit und Schuld: Eine Novelle über das kollektive Wegsehen
In „Small Boat“ benutzt der französische Autor und Philosoph Vincent Delecroix diesen Skandal als Grundlage für eine scharfsinnige literarische Untersuchung über Verantwortung, Menschlichkeit und moral fatigue. Die Novelle, die in der englischen Übersetzung von Helen Stevenson für den International Booker Prize 2025 nominiert war, wird aus der Perspektive einer französischen Seenotrettungsbeamtin erzählt – jener Frau, die die Hilferufe entgegennahm.
„Ich habe euch nicht darum gebeten zu gehen. Wenn du deine Füße nicht nass machen wolltest, Love, hättest du gar nicht erst einschiffen sollen“. Mit diesen Worten beginnt das nur 122 Seiten kurze Buch – und sie sind zugleich die letzten, die die namenlose Erzählerin an die Ertrinkenden richtet, bevor die Leitung bricht.
Später im Verhörraum versucht die alleinerziehende Mutter zu erklären, warum sie nicht mehr getan hat. Warum sie, als letztes Glied in einer endlosen bürokratischen Kette, nicht schuldiger sein will als „das Meer, der Krieg oder die Krisen, die diese Menschen vertrieben haben“. In ihrer distanzierten, fast emotionslosen Art erinnert sie an Meursault, den Protagonisten aus Albert Camus’ „Der Fremde“ – eine Figur, die kühl die Absurdität der Welt reflektiert, während sie mitten in ihr steht
Die Stimme von Delecroix’ Protagonistin ist klinisch, sarkastisch, bisweilen grausam. Und gerade in dieser Kälte hält der Autor einer Gesellschaft, die zu gerne Distanz mit Ordnung und Frieden mit Gerechtigkeit verwechselt, den Spiegel vor. „Empathie“, sagt die Beamtin aus Calais, „ist ein idiotischer Luxus, den sich jene leisten, die nichts tun.“
In dieser Logik ruft die Erzählung Hannah Arendts Konzept der Banalität des Bösen ins Gedächtnis. Jenes gedankenlose Funktionieren im System, bei dem Verantwortung in Routinen verdampft, das alltägliche Wegsehen, das Abwägen, das Schweigen – bis irgendwann Menschen ertrinken, und niemand mehr genau weiß, wer eigentlich versagt hat.
Das Meer, so schwarz wie Hades
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten und letzten hören wir die Stimme der Beamtin. Zuerst im Verhör mit einer Polizistin, die ihr verdächtig ähnlich sieht. Während der Vernehmung werden der Erzählerin Aufnahmen vorgespielt, in denen zu hören ist, wie sie sich zu ihrem Kollegen dreht und sagt: „Ihr werdet nicht gerettet werden.“ Später allein am Meer, das als „so schwarz wie Hades“ – der Gott der Unterwelt – beschrieben wird und in ihr nicht nur Angst sondern auch Liebe auslöst.
Dazwischen beschreibt Delecroix das tatsächliche Sinken des Bootes aus der Sicht der PassagierInnen, die wissen, dass sie bald sterben werden. Hier wandelt sich die Sprache. Wo sonst kühle und distanzierte Prosa ist, wird sie bewegend, poetisch und rasiermesserscharf: „Trotz der Rettungswesten neigte sich jeder Kopf zur Seite, Wasser drang leise in Mund und Nase, während sie ertranken – ohne es zu merken.“
Die letzten Worte des zweiten Teiles gehören dem jungen Mann, der die Notrufe absetzte: „Wenn ich in England ankomme, werde ich in einem Supermarkt arbeiten.“ Ein Mantra, dass er mehrfach wiederholt, als wolle er sich selbst überzeugen.
Individuelle Schuld vs. Strukturelle Ursachen
Auch mit den Lesenden wird ins Gericht gegangen: Wie gehen wir mit Menschen in prekären Lebenssituationen um, die vor unseren Augen stattfinden? Sind wir so viel besser als die Antiheldin? Was ihre AnklägerInnen stört, seien nicht ihre Taten, sondern ihre Worte, behauptet die Erzählerin. Doch, so ihre Verteidigung: „Was hätte es geändert, wenn ich es schöner gesagt hätte? Sie wären trotzdem gestorben.“ Dennoch wird sie vom Geschehenen heimgesucht, hört noch immer Stimmen, die um Hilfe schreien, sieht die Toten in ihrem milchigen Kaffee.
So präzise Delecroix die individuelle Schuld seziert, so wenig Raum lässt er den größeren Strukturen – der Festung Europa, dem politischen Kalkül, den ökonomischen Ungleichheiten. Hier liegt die größte Schwäche vom erstem Werk des Franzosen, das auf Englisch übersetzt wurde: Es blickt tief in das moralische Dilemma des Einzelnen, aber kaum auf die Systeme, die dieses erzeugen.
Und doch: „Small Boat“ wirkt nach. Es zwingt uns, Fragen zu stellen, die wir vielleicht lieber verdrängen würden: „Hey, siehst du den Typen, der da in einem Karton am Fuß deines Gebäudes schläft? Er rudert über den Asphalt, auch er geht unter.“
Dies ist kein Buch, das tröstet, sondern eines, das bohrt – und als literarische Anklage gegen die Gleichgültigkeit fungiert. Delecroix fragt: Wie weit reicht unsere Menschlichkeit wirklich? Denn vielleicht, so legt der Philosoph nahe, ist das wahre Ertrinken längst kein bloßer physischer Vorgang mehr.

Im ersten FACES Bookclub Artikel haben wir Sempre Susan von Sigrid Nunez rezensiert.
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Die Tragik dieser Geschichte ist Teil einer globalen Krise. Laut dem Migration Observatory haben zwischen 2018 und Juni 2025 152 Menschen ihr Leben beim Überqueren des Ärmelkanals gelassen. Das Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hat die weltweite Anzahl dieser vermeidbaren Verluste in Zahlen dargestellt.






